Eine deutsch-irakische Familie im Wachstum – ein Erfahrungsbericht von Jenny Latz
„Wir haben selber keine Kinder, die ältere Familiengeneration ist verstorben und den Rest hat es in alle Welt verstreut. Das heißt für uns: keinerlei Verpflichtungen an den Weihnachtstagen! So fragte ich mich in der Adventszeit 2015: Warum sollen mein Mann und Ich an Heiligabend ein opulentes Weihnachtsmahl verzehren, während nur 200 Meter Luftlinie von uns entfernt die Flüchtlinge im ehemaligen Seniorenheim an der Westparkstrasse dicht an dicht wohnen? Nehmen wir doch den Weihnachtsgedanken auf und laden einen Bewohner ein!
Mein Mann war sofort einverstanden. Wir entschieden uns, einen Flüchtling anzusprechen, den ich schon ein wenig aus meiner Organisationsarbeit für die ehrenamtlichen Deutschkurse an der Westparkstraße kannte. Ali ist Mitte 30, Jeside und kommt aus dem Irak. Er war mir von all unseren Schülern am besten bekannt.
Aber wollte er überhaupt privaten Kontakt mit uns? Außerdem kannte mein Mann ihn noch nicht. Also schlug ich Ali per SMS vor, dass wir beide ihn an einem Abend im Heim besuchen. Er holte uns als Gäste vor dem Eingang ab und wir gingen in den ersten Stock. Doch dort stutzten wir, als er an seiner eigenen Zimmertüre anklopfte. Wie viele Personen wohnten noch dort?
Ali war mit seinem 14-jährigen Bruder geflohen, der schon wesentlich besser Deutsch konnte, weil er hier das Gymnasium besucht. Es war ein nettes, erstes Kennenlernen auf Mini-Deutsch und wir dachten: Ist doch schön, dann kommen eben beide Heiligabend zu uns. Die Einladung wurde ausgesprochen und erfuhr freundliche Zustimmung. So waren aus einem Flüchtling zwei geworden!
Der Heiligabend verlief in angenehmer Atmosphäre. Die Verständigung mit Ali war noch sehr schwierig, aber der jüngere Bruder und Handys halfen uns mit Übersetzungen. Wir hatten zu verstehen gegeben, dass wir dies als Angebot betrachten für ein erstes Kennenlernen und die beiden entscheiden können, ob sie über diesen Abend hinaus weiteren Kontakt mit uns wünschen. Die Chemie muss ja auf beiden Seiten stimmen.
Es war unser besonderes Weihnachtsgeschenk, als Ali in einwandfreiem Deutsch den Abschiedssatz vor dem Aufbruch zurück ins Heim aussprach: „Ja, wir möchten Kontakt!“ Kurz und knapp war alles geklärt.
Noch ahnten wir nichts von dem, was uns erwartete.
Doch gleich zu Beginn des Jahres 2016 ging es los. Ali war ungeduldig, hatte nach einem Dreivierteljahr in Krefeld immer noch keinen Asylbescheid. Das BAMF war nicht erreichbar. Mit dem Anwalt sprechen, im Internet recherchieren, Proasyl kontaktieren und sich beraten lassen, – davon waren die ersten paar Monate geprägt. Da wir gleich um die Ecke vom Heim wohnen, war es einfach für Ali, mal kurz vorbei zu kommen, wenn es etwas zu besprechen gab. Doch nie überfiel er uns, ohne vorher per SMS zu fragen, ob wir Zeit hätten. Die Chemie stimmte und die Verbindung wuchs. Und eines Tages war ich plötzlich Mama Jenny! Eine Ehre für mich und ein Vertrauensbeweis! Als wir im Frühjahr 2016 auf dem Rückweg aus unserem zweiwöchigen Urlaub waren, erreichte mich die SMS von Ali: „Ich vermisse Euch!“ Irgendwie vermissten wir die beiden auch.
Anfang April dann endlich der erlösende Asylbescheid! Nun war weiteres Organisationstalent und Durchhaltevermögen gefragt. Integrationskurs, Wohnung, Zuständigkeitswechsel vom Sozialamt zum Jobcenter und zum Jugendamt für den Teenager. Die Details seien den Lesern erspart. Sie sind Schnee von gestern.
Inzwischen hatten wir viel über das Jesidentum gelesen und uns mit Alis wachsenden Deutschkenntnissen manche Frage erklären lassen. Außerdem erfuhren wir, dass er verheiratet ist und seine Frau und seine drei kleinen Kinder nun über den Familiennachzug nachholen möchte. „Oh, das kann dauern!“ dachten wir aufgrund der sich aktuell verändernden, politischen Lage.
Der Sommer verging mit manchen Grillabenden. Ali und mein Mann grillten oder kochten und ich durfte mich an den gedeckten Tisch setzen. Der Rindenmulch wurde geschleppt. Es entstand Hilfe auf Gegenseitigkeit, wie sie in jeder Familie als normal empfunden wird.
Mitte November war es so weit: Frau und Kinder sollten an einem Sonntagabend am Flughafen in Düsseldorf ankommen. Wieder galt es zu organisieren: Kindersitze mussten her. Welches Auto nehmen wir, wenn wir mit vier Personen ein Empfangskomitee bilden und weitere vier auch mit zurücknehmen wollen? Zwei Wagen waren die Lösung.
Und dann kam der Tag, an dem aus unserem Plan für einen Flüchtling sechs Personen wurden. Es war ein so herzlicher Empfang, als wir die völlig übermüdete Frau und Kinder abholten. Sie waren mit einer Maschine aus Erbil im Nordirak gefüllt mit Familiennachzüglern in Düsseldorf gelandet.
Nun bin ich auch noch Oma Jenny!
Die Kämpfe gegen Behörden und Bürokratie werden mittlerweile weniger. Ali spricht schon sehr gut Deutsch, hat den Integrationskurs beendet und nimmt über den Jahreswechsel noch am Orientierungskurs teil. Schon eine Woche nach der Ankunft hatte er seine 6-jährige Tochter und den 9-jährigen Sohn bereits ohne unsere Hilfe in einer Grundschule angemeldet. Die zweijährige Tochter braucht noch etwas Zeit und hängt sehr an ihrer Mutter.
Auch wenn wir uns mit seiner Frau noch nicht verständigen können, weil sie als Analphabetin länger brauchen wird, freuen wir uns sehr, dass unsere ungewöhnliche Familie gewachsen ist. Unsere erste Entscheidung haben wir keinen Tag bereut. Es ist eine Bereicherung auf beiden Seiten.
Wir freuen uns auf das Weihnachtsfest 2016 – in diesem Jahr zu acht!“
Text & Fotos: Jenny Latz